Die älteste Seilerei der Schweiz, Martin Benz

Die älteste Seilerei der Schweiz, Martin Benz

Wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten steht das einstöckige, aber fast hundert Meter lange Holzhaus zwischen zeitgenössischen Bauten am Rande Winterthurs. Doch so richtig beginnt die Zeitreise erst, wenn man durch die Tür ins Innere tritt. Ein Plakat von General Gusian und diverse Auszeichnungen aus den Anfängen der 1878 gegründeten Seilerei Kislig hängen mit einer Selbstverständlichkeit an der Wand, als handle es sich dabei um die jüngsten Neuigkeiten. In der Werkstatt rattern Flechtmaschinen mit zahlreichen Spulen  und produzieren Kordeln in diversen Farben sowie Ummantelungen für Elektrokabel.

An diesem Herbsttag sitzt Martin Benz in seinem Büro und spleisst eine Aufhängung für ein Zirkustrapez. Neben der Tür steht ein alter Kanonenofen, der leise knistert und für Wärme und Gemütlichkeit sorgt. Die Arbeit, die Martin seit Jahren für die bekannten Zirkusunternehmen der Schweiz übernimmt, braucht Geduld und vor allem viel Wissen. «Das Herstellen von Seilen fasziniert mich. Hier ist meine Insel, hier ist es einfach gut», sagt der heutige Besitzer der Seilerei, die aber nach wie vor den Namen der Gründerfamilie trägt. 

Per Zufall hat Martin Benz 1997 zum ersten Mal einen Fuss in die Seilerei gesetzt. «Mir war sofort klar, hier werde ich bleiben», erzählt er. Der «Kislig» hielt allerdings nicht viel von einer Lehre und schlug ihm vor, einfach im Betrieb mitzuarbeiten. Doch schliesslich konnte ihn Martin überzeugen, er hängte seinen Job als Bauleiter an den Nagel und begann eine Lehre als Seiler. Allerdings machte ihm der damals 78-jährige Patron eine Auflage: «Du kannst bleiben, aber wenn du das Handwerk kannst, musst du den Laden übernehmen.» Nur noch etwa zwölf Seilereien gibt es heute in der Schweiz. Durch seine Arbeit als Prüfungsexperte für die Ausbildung zum Seiler, im Fachjargon «Textiltechnologe Fachrichtung Seil- und Hebetechnik», trägt er dazu bei, dass das traditionelle Seilerhandwerk nicht ganz ausstirbt.

Vieles hier ist auch heute noch Handarbeit, für die es nebst Wissen auch Fingerspitzengefühl braucht. So bestimmt etwa die Geschwindigkeit des Gehens des Seilers die Härte des Seils. Bis zu 15 Kilometer marschiert Martin pro Tag, wenn er lange Seile in der Seilerbahn herstellt. Da macht es nichts aus, wenn die Werkstatt unbeheizt ist. 

Die Seilerei ist aber kein Museum, hier werden Spezialanfertigungen und kleinere Mengen von Seilen in höchster Qualität produziert, für die es in der heutigen Massenherstellung keinen Platz mehr gibt. Martin entwickelt auch laufend Produkte für den Wohnbereich sowie tolle Spielzeuge für Kinder wie Trapeze, Schaukeln oder Springseile. «Oft sind es die Details, die den Unterschied ausmachen», erklärt Martin. So sind etwa seine Springseile in der Mitte dicker, was dazu führt dass sie um Welten besser schwingen als herkömmliche. Diese Sorgfalt und das Wissen um die kleinen, aber entscheidenden Details zieht sich durch das gesamte Sortiment. Über die Jahre ist eine Produktpalette entstanden, die durch ihre auserwählten Materialien und das handwerkliche Können überzeugt und sich von der Massenware abhebt.

Gegründet wurde die Seilerei «auf der Breite Winterthur» 1878. Von 1927 bis 2002 war die Seilerei im Besitz der Familie Kislig. Abgesehen von kleineren Umbauten 1933 und 1959 wurden nur geringfügige Änderungen am Betrieb vorgenommen. In der Schweiz ist die Seilerei einzigartig und die letzte ihrer Art. Seit 2003 ist Martin Benz Inhaber der Seilerei Kislig.

 Fotos: Martin Benz, éternité

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